Alltag

Die Welt eines sehenden und eines blinden Menschen

Das letzte Mal habe ich ja schon das Thema ,,Blindenhilfe“ angeschnitten, heute möchte ich da noch etwas näher darauf eingehen bzw. nur auf die Behinderung an sich.

Was mich ja auch immer wieder fassungslos macht, ist die Tatsache, dass Behinderungen oftmals unterschätzt werden. Bei den Möglichkeiten, die es heute so gibt, ist das Leben ja keine so große Einschränkung mehr. So schon sehr oft bezüglich der Blinden-Behinderung gehört.
Es gibt Blindenhunde, Pflegepersonal und sowieso: Jemand, der schon ,,so“ auf die Welt gekommen ist, kann das ja auch gar nicht vermissen. Die Welt der Farbe. Oder?

Solche Geschichten machen mich wirklich wütend. Eine ignorante Gesellschaft trampelt auf dem Leid anderer Menschen herum, ohne jegliches empathische Gefühl. Dabei haben die blinden Menschen unter uns oft ein großes Päckchen mit sich zu tragen. Wie fühlt ihr euch, in einem stockfinsteren, dusteren Wald, in dem ihr nichts seht, nicht einmal die Hand vor Augen? Und nun stellt euch vor, ihr müsstet euch alleine vortasten, alleine aus einem finsteren Wald finden.
Wie würdet ihr euch fühlen?

Natürlich steht ein solcher Mensch meistens nicht im Wald. Doch gleicht die Welt, in der er lebt oder leben muss oft einem noch viel dunkleren, in dem noch viel schlimmere Gefahren lauern: nämlich der Nachbar, der Postbote, der Lehrer, die Eltern, die Freunde und der Partner. All diese Menschen, die uns tagtäglich begegnen und mit denen er zurecht kommen muss, sie alle mögen ihn, reden mit ihm, unterhalten, kümmern und sorgen sich um den blinden Menschen, der dadurch zu einem Außenseiter wird. Er hat etwas verloren, was so selbstverständlich ist, dass es es umso schmerzlicher fehlt. Und er hat gleichzeitig etwas dafür bekommen, was sonst niemand hat.

Das Augenlicht ist ein Fenster. Nicht nur zur Seele, sondern zu allem, was uns berührt. Meistens sehen wir die Dinge immer zuerst, bevor wir sie anfassen oder gar richtig wahr nehmen. Wir sehen den blauen Himmel, dessen Farbe so intensiv leuchtet, dass sie imstande ist, Glückshormone im Körper auszuschütten. Wir sehen das Reh auf der Weide. Die verblassten Gemälde an den tabakgelben Wänden der Großeltern. Wir sehen die Falten in ihrem Gesicht, können sie zu einem spannenden, gelebten Leben zusammen zählen. Wir sehen das Baby, den Hund, die sich putzende Katze. Wir sehen in der Hast das viel zu weit entfernte Auto, so dass wir unbesorgt über die Straße rennen können. Wir sehen den Typen, der beim Gehen seine Zeitung liest und uns deshalb umlaufen würde, würden wir nicht zur Seite springen. Wir sehen schon von Weitem, wohin der Weg uns führt, den wir gerade gehen. Nur nehmen wir das nicht bewusst wahr, fälschlicherweise nehmen wir an, dass es einfach ,,passiert“, dass das ,,eben so ist“. Und genau daran zerbröselt die karge Brücke zwischen den beiden Welten eines Sehenden und eines Blinden.

Ein blinder Mensch hat eines der wichtigsten Sinnesorgane verloren: die Augen. Weil er sich mit ihnen nun nicht mehr orientieren kann, beginnt er, seine anderen Sinnesorgane weiter zu entwickeln, sie zu sensibilisieren. Deshalb hören blinde Menschen falkengleich gut. Sie nehmen wahr, in welche Richtung der Gegenüber spricht: Zieht die Stimme an ihm vorbei, so, dass das Gesagte ihn nur streift? Oder trifft sie ihn mitten im Gesicht, wo er ihr lauschen muss? Das gibt ihm Aufschluss darüber, ob der andere ihn beim Sprechen ansieht – oder vielleicht betreten zur Seite.

Auch ist der Tastsinn feinfühliger. Alles, was er nun anfässt, sieht und ,,schmeckt“ er beinahe. Die Welt hat nun zwar keine Farben mehr, aber sie hat Geräusche, Klänge, Töne… und sie hat Empfindungen, Abstufungen, Rundungen und scharfe Ecken. Wie kann ein gesunder, sehender Mensch da nur annehmen, es wäre bei den heutigen ,,Möglichkeiten“ nicht mehr so tragisch wie zu früheren Zeiten? Natürlich waren früher die Zeiten ganz anders – jedoch wiegt der heutige Stand der Medizin keine einzige tragische Geschichte auf. Kein Schicksal wird dabei gerecht. Im Gegenteil. Die Waagschale hat allerhöchstens mal einen zitternden Hauch erfahren.

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