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Eine Frau, die um das Schicksal ihrer Familie kämpft – mit einem todkranken Ehemann

Diese Geschichte berührt derzeit Deutschland: Ein einigermaßen junges Mädchen heiratet mit Anfang zwanzig einen Mann. Das Glück glänzt hochpoliert aus allen Fugen, bis es einen tiefen Kratzer abbekommt: Ihr Mann hat Krebs.

Das alleine liest sich schon wie aus einem schlechten Drama. Irgendwie mag man gar nicht weiter lesen, diese Tragödie kratzt an den tiefsten Eingeweiden der eigenen Seele. Der wahr gewordene Alptraum.
Das Mädchen ist so alt wie ich – Anfang zwanzig. Verliebt sich Hals über Kopf in den berühmten Nachbarsjungen, der schüchtern zu ihr herüber lächelt. Die Liebe ist groß, die Herzen und Träume ebenso, deshalb beschließen die beiden, schnell zu heiraten. Kinder, gemeinsame Wohnung, alles erscheint wie ein Traum aus einem Jahrhundertsommer. Der Himmel ist immer blau, die Straße flirrt und die Finger kleben von zuviel süßem Eis.

Doch das Glück währt nicht lange. Ihrem frisch angetrauten Ehemann wird bald ein Tumor diagnostiziert. Ein halbherzig böser Tumor im Kopf, an einer Stelle, wo nicht operiert werden kann. Die einzige Lösung: Ein ,,bisschen“ was von der Schädeldecke ,,rausschneiden“, um dem Tumor Platz zu schaffen, wenn er weiter wächst. Damit nichts zerdrückt wird.
Der Mann ist Mitte zwanzig, als man ihm eröffnet, dass er nie wieder gesund wird.

Man könnte meinen, das war´s schon. Mehr Tragödie verträgt ein junges Paar nicht. Aber weit gefehlt. Die beiden wollen kämpfen, die Liebe ist groß. Aber sie muss einiges aushalten, denn wenn die geistige Kapazität eingeschränkt ist, kommen oft einige Neigungen und Persönlichkeitszüge in Menschen hervor, die sonst von anderen Instanzen überlagert werden. So auch bei ihm. Er beginnt, die Kinder sexuell zu missbrauchen. Bestreitet es, er ist doch lieb. Könnte keiner Fliege etwas zuleibe tun. Das Ding in seinem Kopf ist Schuld. Was sonst?

Die Frau kämpft trotzdem weiter. Kämpft um die Seelen ihrer Kinder und kämpft auch um ihn. Mehr und mehr verliert sie sich dabei, hört auf, zu essen, macht sich schlimme Vorwürfe. Während er ,,lieb“ ist. Er ist ja nicht zurechnungsfähig. Oder?
Und genau deshalb erscheint mein heutiger Beitrag hier im Barrierefreiheit-Blog. Ich möchte mit dem Zeigefinger in die Rippchen des Wortes ,,Verantwortung“ pieken, es provozieren, hervor locken.
Denn oft genug wird diese im Angesicht des Todes – oder der gesellschaftlichen Aussortierung – gescheut. Sie geht abhanden, wie eine schlecht sitzende Haut. Abgeschält und zurück bleibt ein Tier.

Der Mann also weiß, dass er sterben muss. Dass der  Tumor auf seinen Kopf drückt, wie ein penetranter Finger auf einer fauligen, weich-matschigen Tomate. Mit diesem Deckmäntelchen lassen sich einige behinderte Menschen so einige Macken einfallen, mit denen sie sich durch das Leben mogeln. Was ja an sich nicht schlimm wäre. Doch was passiert hier, in dieser kleinen Familie? Die spontane Küchenpsychologin in mir würde behaupten, dass der Mann wütend ist. Wütend auf das Leben, auf die Gesundheit seiner Mitmenschen. Während er selbst oft Dinge verschludert, die Orientierung verliert und oft genug nicht mehr ganz so zurechnungsfähig ist. Irgendwie muss die Wut raus, kompensiert werden. Irgendwie muss es weiter gehen.

Bewundernswert ist hier die Frau, die um ihre Familie kämpft, bis ihre Seele blutet. Am Ende seines Kampfes pflegt sie ihn, besucht ihn täglich im Krankenhaus, streichelt seine Hand. Schenkt ihm einen Jogging-Anzug und wischt ihm über den Mund. Der Mann hat sie geschlagen und ihre Kinder missbraucht und trotzdem ist sie es, die ihn bis zum Schluss hingebungsvoll begleitet.

Mich hat diese Geschichte wirklich sehr berührt und in mir viele Fragen aufgeworfen. Was ist mit Verantwortung? Gibt eine Krankheit, eine Behinderung oder ein Schicksalsschlag dem Menschen das Recht, zurück zu schlagen? Kann man diesem schwer kranken Menschen seine Taten einfach so verzeihen, weil der Tumor seine besten Denkstrukturen zerdrückte? Ist es tatsächlich so einfach? Und wenn es das ist – bedeutet es, dass das Böse so nahe ist, in jedem von uns? Wären wir dann nicht ebenso in der Lage, solche furchtbaren Dinge zu tun? Diese Geschichte ist so bitter und böse, ohne Happy End und ohne irgendeine Antwort zu liefern. Sie fegt wie ein bestialischer Sturm über uns hinweg und hinterlässt eine schmerzende, graue Leere, die sich durch unser Innerstes frisst.
Sonst können wir ja sagen: Liebe hilft über alles hinweg. Oder: Es gibt gute und böse Menschen. So ist das eben. Später wird Gott schon alles richten. Aber was, wenn das böse nicht grundlegend böse ist? Und das gute ebenso wenig?
Was, wenn eine so durchtrieben böse und schlimme Tat nicht aus bösen Motiven entspringt?
Was, wenn der Mann es tatsächlich nicht so meinte? Wenn er nur nicht mehr richtig ,,tickte“?

Solche Geschichten zeichnen der Welt ein teuflisches Gesicht. Aber auch das ist mal wieder nur die halbe Wahrheit. Die ganze werden wir wohl nie erfahren. Die Antwort bleibt uns das Leben schuldig.

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