Alltag

Wachkomapatienten leiden unter dem Apallischen Syndrom

Die Sterbehilfe ist ja ein heiß diskutiertes Thema. Moralpostel, Familienangehörige und Ärzte. Menschen mit verschiedenen Standpunkten. Alle wollen etwas dazu sagen, alle meinen, es besser zu wissen. Und der Patient selbst?

Wovon ich rede, ist das Wachkoma. Auch Apallisches Syndrom genannt. Es bedeutet, dass ein Mensch irgendwie weg ist, obwohl er augenscheinlich ja da ist. Sein Körper sitzt da, er bewegt ihn nur nicht. Seine Augen sind geöffnet, nur sieht er nichts. Oder?
Bei einem Wachkoma ist alles schrecklich und alles möglich. Der Mensch ist sich selbst nicht bewusst, es ist, als würde er halb schlafen. Und halb wachen. Es gibt keine gute Beschreibung für etwas, von dem man nicht weiß, was es ist.

Ein Mensch, der gestern noch gelacht hat, geweint, der manchmal unfair war und die Türen laut zugeschlagen hat, wenn er wütend war. Er spielt schlecht Klavier und hört gern Geschichten. Reitet und singt. Raucht zuviele Zigaretten und nervt damit die Eltern. Hatte schon mal eine Freundin und ersten Liebeskummer. Ein buntes Leben, wie ein honigsüßer Kuchen. Bis es platsch macht und man nach einem heißen Sommertag in einen Swimmingpool springt, kopfüber, und man den Weg zurück an die Oberfläche, zum Licht, nicht mehr findet. Man krault und schwimmt kräftige Züge, aber ,,die da oben“ sehen nur einen leblosen Fisch im Wasser.

So ein ,,Platsch“ kann ein Unfall gewesen sein, bei dem das Gehirn verletzt wurde. Die meisten Wachkomapatienten wachen nie wieder auf. Also, was heißt, sie wachen nicht auf, sie sind ja wach, genauso regulär wie andere Menschen auch. Sie sind nur nicht richtig da. Es ist, als wäre das Bewusstsein plötzlich eingeklemmt.
Sie reagieren kaum bis gar nicht, können nicht alleine essen, nicht kommunizieren. Und niemand kann sagen, was in diesen Menschen vorgeht, was sie denken, ob sie denken, was sie fühlen und was sie wollen.

Eine moralische Grauzone. Es gibt Fälle, bei denen Angehörige veranlassen, die lebenserhaltenden Maßnahmen ,,abzuschalten“. Das heißt, der Patient bekommt einfach keine Nahrung mehr zugeführt und muss kläglich verhungern. Sie seien der Meinung, der Mensch leidet nur unnötig und man möchte ihn von seinen Qualen  befreien.
Und es gibt diejenigen, die eines Tages wieder aufwachen und davon erzählen, dass sie als Wachkomapatient sehr wohl vieles mitbekommen haben. Die Streicheleinheiten gespürt, die Tränen gesehen, die andere geweint haben. Doch das ist bisher immer ein kleines medizinisches Wunder.

Es gibt bei diesem Syndrom viele Abstufungen. Manche können leicht auf ihre Umwelt reagieren, manche überhaupt nicht mehr. Dass dieser Dämmerzustand für die Familie oft ein sehr schmerzlicher ist, ist mir klar. Diese Verhungerungs-Strategie finde ich allerdings ganz furchtbar. Man tötet einen Menschen willentlich, obwohl man nicht weiß, was er davon halten würde. Obwohl man auch nicht weiß, ob die Behinderung nicht vielleicht endlich ist und der geliebte Mensch eines Tages wieder da  ist.

Unter ,,Barrierefreiheit“ begreife ich genau diese Menschen: Schwächere, die Schutz und Unterstützung bedürfen und sich in dieser Gesellschaft aufgehoben fühlen können. Genau diesen Menschen den Hungertod auszusetzen gleicht der Selektion. Aussortiert wird, was nicht mehr brauchbar ist. Ist das jetzt ungerecht von mir? Verstehe ich nicht den Schmerz bei den Angehörigen? Verstehe ich sehr wohl. Aber ich verstehe hier genauso gut mangelndes Verantwortungsbewusstsein. Fehlender Mut. Hoch gehaltene, moralische Liebe, die halbherzig gemeint ist. Das Leben ist alles, was wir haben. Und sich das Recht heraus zu nehmen, Gott zu spielen und über den Tod entscheiden zu dürfen, ist Blasphemie. Dagegen steht Beihilfe zum Selbstmord. Wenn ein bewusst denkender Mensch, der sich klar ausdrücken kann und als todkranker Mensch den Wunsch äußert, sterben zu dürfen, ist das eine ganz andere Ausgangslage.
Den Wachkomapatient hingegen fragt niemand. Man meint nur, das Richtige entscheiden zu können. Zu seinem Wohle.

Ich persönlich glaube ja, dass es eine ganz falsche Entwicklung gewesen ist, dass der Mensch überhaupt jemals angefangen hat, über solch gravierende Dinge zu entscheiden. Ob nun Todesstrafe, Abtreibung oder eben die Abschaltung der ,,lebenserhaltenden Maßnahmen“.
Wild geworden spielt der Mensch Gott. Für mich gleicht das einem Wahnsinn, dessen Konsequenzen wir noch lange nicht begriffen haben. Und wo fängt so etwas überhaupt an? Wo liegen die Grenzen? Ein Wachkomapatient wird getötet. Was ist mit den Menschen im Rollstuhl? Sie können immerhin nicht mehr rennen. Was ist mit einem querschnittsgelähmten Menschen, der nur noch seine Augen blinzeln kann, aber bei vollem Bewusstsein ist? Was wäre, wenn?

Übrigens möchte ich hier noch einmal die Krankenkasse erwähnen, die die Therapie und Pflege eines Wachkomapatienten nur ungerne übernehmen. Oft nur über einen begrenzten Zeitraum hinweg. Da frage ich mich doch, wozu die Krankenkassen denn da sind, wenn nicht zur Finanzierung der Pflege kranker Menschen? Was gibt denn denen das Recht, darüber zu entscheiden, ob das Sinn macht oder nicht? Ein lebender Mensch braucht nach einem Unfall eine aufwändige Therapie. Er muss gepflegt werden. Er kann nichts erzählen und sich nicht mitteilen. Deshalb ,,ist“ er nicht mehr. Oder wie muss ich diese Reaktion verstehen?
Barrierefreiheit plädiert immer für Menschlichkeit. Einen Menschen verhungern zu lassen ist definitiv nicht menschlich. Es ist grausam.
Die Krankenkassen unterstützen diese Einstellung auch noch mit der Weigerung bestimmter Hilfsmittel.

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